Wirtschaft und Wohlfahrt wachsen enger zusammen. Was bedeutet das für beide Seiten?
Getrennte Systeme mit nur wenigen Berührungspunkten sind Wirtschaft und Wohlfahrt längst nicht mehr. Unternehmen begreifen klassische Elemente der Wohlfahrt inzwischen häufig als sinnvolle Angebote zur Unterstützung ihrer Beschäftigten. Der anhaltende Erfolg von Employee Assistance Programs (EAP) auch bei uns in Deutschland ist das beste Beispiel dafür. Gleichzeitig achten Wohlfahrtsverbände zunehmend auf ihre Wirtschaftlichkeit und stellen sich professioneller und effizienter auf. Wirtschaft und Wohlfahrt rücken damit enger zusammen. An dieser Entwicklung gibt es zuweilen auch Kritik. Doch welche Chancen stecken darin? Können Unternehmen und Wohlfahrtverbände voneinander lernen? Ein Beitrag zum Jahresbeginn, der Reflexion fördern und zur Debatte einladen möchte.
„Wir sind kein Wohlfahrtsverein, sondern ein Wirtschaftsunternehmen“ – mit diesen Worten verteidigte kürzlich der Geschäftsführer einer bekannten Brauerei die Konditionen seines Unternehmens gegenüber der Gastronomie. Es ist nicht das erste Mal, dass man von Führungskräften der Wirtschaft diesen markigen Spruch hört. Und wie sieht es bei den Wohlfahrtsverbänden aus? „Wir sind keine Kapitalisten, sondern die Wohlfahrt“, ist mir bis jetzt noch nirgends zu Ohren gekommen. In der Wohlfahrtspflege äußert man sich gern subtiler, mehr im Soziolog*innendeutsch. Die „Ökonomisierung des Sozialen“ wird dann zum Beispiel beklagt. Fremdheit gegenüber der anderen Seite schwingt auch in solchen Äußerungen mit. Dabei hätten Wirtschaft und Wohlfahrt heute allen Grund, mehr miteinander statt übereinander zu reden.
Zwei gesellschaftliche Systeme, ein zentrales Ziel
Lange wurden Wirtschaft und Wohlfahrt tatsächlich als getrennte Sphären gesehen. Wirtschaft agiert auf einem Spielfeld von Angebot und Nachfrage, betrieblicher Effizienz und Gewinnmaximierung. Wohlfahrt hingegen verfolgt das Ziel, Menschen in schwierigen Lebenslagen zu unterstützen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern. Wohlfahrt erstreckt sich insbesondere auf Gesundheit, materielle Sicherheit und soziale Beziehungen. Sie verbindet materielle Unterstützung mit ideellen Werten wie Solidarität und Gerechtigkeit. Das alles lässt sich gängigen Definitionen von Wohlfahrt entnehmen. Wohlfahrtsverbände haben aufgrund ihrer jeweiligen Tradition dann typischerweise noch einmal unterschiedlich nuancierte Werte, die ihre Identität ausmachen und die sie zu Recht hochhalten.
Beide Bereiche teilen jedoch ein zentrales Ziel, das häufig übersehen wird: die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen. Unternehmen entwickeln und vermarkten zahllose Produkte und Dienstleistungen, die für ihre Kund*innen einen hohen Nutzen stiften. Wäre das nicht so, könnten Unternehmen kaum ihre Preise durchsetzen. Wohlfahrtsverbände kümmern sich hingegen direkt um das Wohlergehen von Menschen. Das tun sie teilweise, jedoch keineswegs ausschließlich unentgeltlich.
Diese Gemeinsamkeiten bilden die Basis für Synergien zwischen Wirtschaft und Wohlfahrt, die in Zukunft immer wichtiger werden könnten. Unternehmen sind zunehmend sinnorientiert und beschäftigen sich neben dem Wohlergehen der Kund*innen auch mit den Bedürfnissen der eigenen Mitarbeitenden. Die meisten Wohlfahrtsverbände wiederum agieren heute ähnlich professionell und kund*innenorientiert wie Wirtschaftsunternehmen.
Eine gute Idee, die zur richtigen Zeit kam
Die Geschichte von awo lifebalance ist ein gutes Beispiel für die dynamische Paarbeziehung zwischen Wirtschaft und Wohlfahrt. Alles begann 2006 mit der Gründung des AWO ElternService durch einen Kreis um Wolfgang Stadler, der damals Vorsitzender des AWO-Bezirksverbands Ostwestfalen-Lippe war. Das Ziel lautete, berufstätige Eltern bei der Organisation der Kinderbetreuung zu unterstützen – ein wachsendes Bedürfnis in einer flexibleren Arbeitswelt. Die AWO brachte ihr großes Netzwerk eigener Kitas mit ein. Der erste Kunde war ein öffentlicher Träger mit 25.000 Beschäftigten. Mundpropaganda sorgte dafür, dass auch große Mittelständler und DAX-Unternehmen auf den ElternService zugriffen.
Mit der Zeit erweiterte sich das Angebot. Der Fokus verschob sich von ausschließlicher Kinderbetreuung auf umfassendere Leistungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Das führte 2010 zur Umbenennung in awo lifebalance. Themen wie Pflege in der Familie, herausfordernde Lebenslagen, psychische Gesundheit oder finanzielle Notlagen kamen hinzu. Als Spin-off eines großen Wohlfahrtsverbands konnte awo lifebalance überall auf ein breites Netzwerk und jahrzehntelange Expertise zurückgreifen. Innerhalb der AWO gab es jedoch manchmal noch Skepsis gegenüber dem privatwirtschaftlich organisierten Spin-off. Die gefühlte Nähe zur Wirtschaft befremdete einige.
Employee Assistance Programs sind heute selbstverständlich
Auf der anderen Seite hatte sich die Wirtschaft schrittweise für ein Thema geöffnet, das heute als soziale Nachhaltigkeit bekannt ist. Bereits 1907 bot das New Yorker Kaufhaus Macy’s Hilfe für Mitarbeitende in Notlagen an. Ab den 1930er-Jahren wurden in den USA Programme zur Unterstützung von Beschäftigten mit Suchtproblemen etabliert. Ähnliche Programme fanden etwa ab dem Jahr 2000 langsam auch in Deutschland Verbreitung, wo der Bedarf an solchen Angeboten aufgrund des demografischen Wandels und der steigenden Belastungen in der Arbeitswelt stark zunahm.
Employee Assistance Programs sind heute ein unverzichtbarer Bestandteil moderner Arbeitswelten. Sie bieten Mitarbeitenden Unterstützung in schwierigen Lebenslagen, sei es durch Kinderbetreuungsservices, Pflegeberatung oder Lebenslagencoaching. Dabei profitieren nicht allein die Beschäftigten, sondern auch die Unternehmen. Studien zeigen, dass zufriedene und unterstützte Mitarbeitende weniger Fehlzeiten aufweisen, motivierter sind und seltener das Unternehmen verlassen.
Für viele Unternehmen sind EAP zudem ein Wettbewerbsvorteil beim Talentmanagement. Die Unterstützung durch ein starkes EAP-Programm signalisiert Fürsorge und soziale Verantwortung, was vor allem für jüngere Generationen ein entscheidendes Kriterium bei Wahl ihrer Arbeitgebenden sein kann. Gleichzeitig ermöglichen EAP eine Win-win-Situation: Die Wirtschaft profitiert von psychisch stabilen, engagierten Mitarbeitenden – und die Wohlfahrtspflege stärkt ihre wirtschaftliche Basis durch innovative Dienstleistungen. Je enger beide Seiten kooperieren, desto öfter tauschen sie auch Best Practices aus.
Wirtschaft und Wohlfahrt verzahnen sich immer mehr
Die Zukunft könnte eine noch engere Verzahnung von Wirtschaft und Wohlfahrt erfordern. Wohlfahrtsverbände müssen jetzt schon zunehmend wirtschaftlich agieren, da knappe Mittel möglichst effizient eingesetzt werden sollten. Zur Finanzierung ihrer Arbeit ist es zudem ratsam, neue Einnahmequellen zu erschließen. Gleichzeitig wächst gesellschaftlich der Bedarf an maßgeschneiderten sozialen Dienstleistungen, die auf individuelle Bedürfnisse eingehen. Dies ist ein Feld, das die Wohlfahrtspflege mit ihrer Expertise ideal bedienen kann. Ohne unternehmerisches Denken werden der Wohlfahrtspflege viele der nötigen Anpassungen an zukünftige Rahmenbedingungen kaum gelingen.
Unternehmen wiederum stehen vor der Herausforderung, ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden, wie sie inzwischen auch von der Europäischen Union verpflichtend festgeschrieben ist. In einer Arbeitswelt, die von Flexibilität, Diversität und intensivem globalem Wettbewerb geprägt ist, reicht es nicht länger aus, Beschäftigte auf staatliche Unterstützung oder Angebote der Wohlfahrtspflege zu verweisen. Eigene Initiativen sind gefragt, um Mitarbeitende in Lebenslagen zu unterstützen, die ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen können.
Unternehmen dürfen sich hier unter anderem fragen:
- Wo bieten Staat und Wohlfahrtspflege zu wenig? Mit Employee Assistance Programs schließen Unternehmen heute für Beschäftigte regelmäßig Lücken bei der Daseinsvorsorge. So gibt es z. B. einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, aber viel zu wenige Plätze.
- Was belastet Mitarbeitende besonders stark? Je nach Unternehmen kann es typische Beeinträchtigungen der Motivation und psychischen Gesundheit geben. Bei einem hohen Frauenanteil kann dies z. B. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sein.
- Was stärkt unsere Unternehmenskultur? Familienfreundlichkeit beispielsweise kann eine Kultur stärken und Ausdruck von Gemeinsamkeit und Zusammenhalt sein. Auch Aktionstage zu Themen wie Gleichstellung, Inklusion oder Zivilcourage gegen Rechts senden starke kulturelle Signale.
Zusammen können Wirtschaft und Wohlfahrt neue Standards setzen: Für eine Arbeitswelt, die nicht nur produktiv, sondern auch menschlich ist. Eine Welt, in der Unternehmen nicht nur Gewinne erzielen, sondern auch Social Capital erschaffen. Wohlfahrtsverbände und deren eigene Unternehmen können ihre Rolle als verlässliche Partner der Unternehmen für soziale und gesellschaftliche Herausforderungen weiter ausbauen. Ich wünsche mir, dass beide Seiten ihre Gemeinsamkeiten noch mehr sehen und das Miteinander noch bewusster kultivieren. Vielleicht hören wir Führungskräfte der Wirtschaft dann sogar eines schönen Tages sagen: „Wir sind doch nicht nur ein Wirtschaftsunternehmen, sondern auch ein Wohlfahrtsverein!“ 😊
Fazit
Wirtschaft und Wohlfahrt sind längst keine Gegensätze mehr, sondern Partnerinnen mit einem gemeinsamen Ziel: die Lebensqualität aller Menschen zu verbessern. Während Unternehmen durch innovative Produkte überzeugen, bringen Wohlfahrtsverbände ihre soziale Expertise ins Spiel. Gemeinsam können beide Seiten Herausforderungen wie dem demografischen Wandel, gesellschaftlicher Ungleichheit oder der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erfolgreich begegnen. Eine noch intensivere Zusammenarbeit stärkt nicht nur Unternehmen und Wohlfahrtsverbände, sondern vor allem die Menschen, die von deren Aktivitäten profitieren. Es ist Zeit, letzte Vorbehalte abzubauen, voneinander zu lernen und mutig neue Wege zu gehen – für eine gerechtere und menschlichere Zukunft.

